[DE – English version below]
Im Rückblick scheint die Riders United-Bewegung vor einem halben Jahrzehnt wie das letzte Hurra im vereinten Kampf für die Rechte von Lieferfahrer*innen in West- und Nordeuropa. Auch wenn die Bewegung viel Schwung verloren hat und der sogenannte Plattformkapitalismus mittlerweile zu einem normalisierten Teil des alltäglichen Lebens gehört, so lassen sich die Risse im System dennoch nicht zusammenflicken. Missstände führen kontinuierlich zu lokalen Arbeitskonflikten.
Ein solcher Fall war der unser*er Genoss*in S. von der FAU Münster, der*die in einem langen und vertrackten Konflikt mit Lieferando verwickelt war. Der aktuelle Kampf – nicht der erste mit diesem Arbeitgeber – lief vom Frühjahr bis zum Spätsommer 2023. Ob es sich dabei um einen gezielten Angriff auf eine politisch organisierte Person handelte, die sich für die Rechte von Fahrer*innen einsetzte, oder um ein Beispiel für das absolute Versagen der Kommunikation in der Unternehmensstruktur von Lieferando, ist nicht vollkommen klar. Unabhängig davon meinen wir, dass die gelernten Lektionen hilfreiche Erkenntnisse für zukünftige Kämpfe bieten können.
Seit Arbeitsbeginn bei Lieferando hat S. durchgehend Buch über die Zusagen und Versprechungen des Arbeitsgebers geführt, indem S. Kommunikationsprotokolle anfertigte, sich mit anderen Fahrer*innen absprach und Arbeitsprobleme dokumentierte. Auf diese Weise konnte S. in den Monaten vor dem Konflikt den Arbeitgeber zu merklichen Verbesserungen der Arbeitsbedingungen für Fahrer*innen drängen, zum Beispiel durch die Bereitstellung von Arbeitstelefonen und die Möglichkeit ein Arbeitsfahrrad von Lieferando zu erhalten.
Die Probleme begannen im März 2023, als S. versuchte persönlich einen verpflichtenden Termin zur Fahrradkontrolle wahrzunehmen. Niemand von Lieferando oder den weiteren Unternehmen, an die solche Dinge ausgelagert wurden, war anwesend. S. versuchte das Unternehmen zu kontaktieren und eine Erklärung zu erhalten, stieß jedoch auf Schweigen. Zwei Wochen später versuchte S. an einer Online-Sicherheitsschulung teilzunehmen und wartete etwa 30 Minuten. Auch hier erschien niemand. Am nächsten Tag hatte S. einen Arbeitsunfall, der einen Krankenhausaufenthalt mit sich brachte und von dem S. einige Wochen genesen musste.
Was folgte war ein Hin und Her bei dem Lieferando S. vorwarf nicht an der Sicherheitsschulung teilgenommen zu haben, die nach Lieferandos Angaben tatsächlich stattgefunden habe, gleichzeitig aber zugab, dass die Personalabteilung S. während des Zeitraums der Arbeitsunfähigkeit nicht hätte kontaktieren dürfen. Die Situation eskalierte im April, kurz nachdem S. genesen war: Lieferando sperrte S. für die Anfragen für Arbeitsschichten und erteilte eine Reihe von Abmahnungen bezüglich der fehlenden Teilnahme an der Sicherheitsschulung, dem Versäumnis ordnungsgemäße Dokumente einzureichen und einigen zweitrangigen Behauptungen. Zu diesem Zeitpunkt hatte S. kein Einkommen und konnte nicht einmal die Krankenversicherung zahlen.
Der gesamte Schriftwechsel zwischen S. und Lieferando ist verworren und chaotisch, weshalb wir ihn hier nicht weiter wiedergeben werden. Was wir allerdings betonen wollen, ist die Strategie, für die wir uns entscheiden haben. Wie bereits angemerkt, hat S. alles dokumentiert, von Videoaufnahmen, die zeigen, dass niemand beim der Fahrradkontrolle anwesend war bis hin zu Bildschirmaufzeichnungen und Screenshots, die belegen, dass die Online-Sicherheitsschulung nicht stattgefunden hatte. Wichtig war, von Anfang an die relevanten Metadaten zu dokumentieren, d.h. solche, die auf dem Gerät (Handy, Laptop, Kamera) selbst gespeichert sind, zu sichern. Dazu gehören unter anderem das Datum, die Zeit und der Ort, wo die Aufnahmen und Screenshots gemacht wurden. Ohne diese Metadaten kann der Arbeitgeber oder das Gericht die Aufnahmen oder Screenshots als Beweismittel ablehnen oder begründeten Zweifel an ihrer Glaubwürdigkeit hegen. Tatsächlich versuchte Lieferando selbst die von uns zur Verfügung gestellten Screenshots abzulehnen mit dem Argument, dass die URL-Links nicht deutlich erkennbar seien.
S. bezog auch den Betriebsrat in den E-Mail-Verkehr mit Lieferando ein. Und auch wenn sich der Betriebsrat als überraschend rückgratlos herausstellte, so half es doch, genügend Zweifel an der Darstellung, die Lieferando von Anfang an kreiert hatte, aufkommen zu lassen. Wir fingen an Listen mit den widersprüchlichen und schlicht falschen Informationen aus dem E-Mail-Verkehr zwischen der Personalabteilung, dem Betriebsrat und S. zu erstellen.
Im Mai scheiterte ein zweiter Versuch, die Online-Sicherheitsschulung durchzuführen. Wieder erschien niemand von Lieferando.
Lieferandos Personal- und PR-Maschine besteht aus unzähligen gesichtslosen Namen, die endlos E-Mails und Anfragen beantworten. Sie beschränkt sich meist darauf, Standardphrasen aus dem internen Regelwerk zu wiederholen, gelegentlich erreicht man einen frustrierten Manager, oder jemand Vorsichtigeren, der*die den Fall an eine andere Abteilung weiterleitet. Forderungen und Beschwerden werden von ihnen nicht angemessen geprüft, stattdessen verstecken sie sich hinter der brüchigen Autorität des „Ich mache die Regeln nicht“-Mantras. Also haben wir beschlossen, sie auf eben jene Regeln festzunageln.
Anstatt einen gewerkschaftlichen Brief zu schreiben, der alle von S. gesammelten Beweise hieb- und stichfest enthielt, lockten wir sie zunächst mit einem scheinbar schwächeren Brief – die Screenshots im Anhang, die bewiesen, dass S. um 13:12 in der Online-Sitzung und ansonsten niemand dort war. Anderweitige Beweise erwähnten wir nicht.
Lieferando antwortete mit einem Tonfall falscher Beschwichtigung und bot an eine der von ihnen ausgesprochenen Abmahnungen fallen zu lassen, beharrten jedoch darauf, S. kein Geld für den Zeitraum zu schulden, in dem S. für Arbeitsschichten gesperrt war. Lieferandos gesamtes Argument basierte auf der Behauptung, dass die Online-Sitzung selbst, laut ihrer Dokumentation, tatsächlich zwischen 12:00 und 13:00 stattgefunden habe und dass die Screenshots lediglich zeigten, dass S. um 13:12 bei der Online-Sitzung anwesend gewesen wäre. Daher sei es nicht mehr möglich gewesen, S. zu diesem Zeitpunkt zur Sitzung zuzulassen, da diese bereits abgeschlossen wäre.
An diesen Punkt gab es für sie kein Zurück mehr. Also setzten wir mit einem weiteren Brief und einer E-Mail nach. Wir wiesen nach, dass die von ihnen erwähnten Zeiten nachweislich falsch waren und dass S. tatsächlich zur richtigen Zeit online anwesend war. Wir hatten noch die Screenshots von der Anmeldung zu dieser Schulung und damit den notwendigen Beweis, der belegte, dass Lieferando im Unrecht war. Außerdem machten wir deutlich, dass dies unsere letzte E-Mail gewesen war und wir als nächstes rechtliche Schritte einleiten würden.
Da ihre Version der Ereignisse nicht länger haltbar war, knickte Lieferando ein und erklärte sich bereit, S. rückwirkend für die drei Monate zu bezahlen, in denen S. für Arbeitsschichten gesperrt war, und zudem die Abmahnungen zurückzunehmen.
Auch wenn die Riders United-Bewegung gestorben ist, die Lektionen, die sie uns gelehrt hat, können nach wie vor auf neuere Kampf- und Organisierungsmethoden ausgeweitet werden. Wir neigen dazu, Konzerne als kalt und rücksichtslos zu betrachten, doch lässt sich hinter ihrer gesichtslosen Natur eine chaotische Organisationsstruktur ausmachen, deren internen Widersprüche in ein Werkzeug für den Arbeitskampf transformiert werden können.
[EN – deutsche Version oben]
Looking back, the Riders United campaign from half a decade ago feels like one last hurrah in the united fight for the rights of delivery workers throughout Western and Northern Europe. While the campaign has lost most of its steam and this so-called Platform capitalism is now a normalized part of everyday life, the cracks in the system cannot be patched. Abuses continuously erupt into local work conflicts.
One such case was that of our comrade S. from the FAU Münster, who was involved in a long and convoluted conflict with Lieferando. The current struggle – not their first with this employer – lasted between early spring and late summer of 2023. Whether it was a targeted attack on an organizer who agitated for the rights of riders or an example of the complete communication breakdown between Lieferando’s corporate structures is not entirely clear. Regardless, we consider that the lessons we have learned can provide a few useful insights for future struggles.
Since starting their work at Lieferando, S. has constantly kept track of the employer’s promises by maintaining a record of communications, coordinating with the other riders, and documenting work issues. This allowed them to push the employer to provide notable improvements for riders in the months leading up to the conflict, for example work phones and the possibility to get a work bike from Lieferando.
Problems started brewing in March 2023, when S. tried to attend a mandatory bike check in person. Nobody from Lieferando or from the companies they outsource these things to was present. Our comrade tried to contact the company and get an explanation, but was met with silence. Two weeks later they tried to attend an online safety training and waited for about 30 minutes. Once again, nobody showed up. The following day, they had an accident at work for which they had to be hospitalised and needed a few weeks to recover.
What followed was a back and forth, with Lieferando accusing S. of not attending the training which they insisted had indeed taken place, while at the same time admitting the HR team shouldn’t have contacted them during sick leave. This escalated in April, shortly after our comrade recovered medically: Lieferando blocked them from requesting shifts and issued a series of warnings for not attending safety training, not submitting proper documentation, and a few other secondary claims. At this point, S. had no income and couldn’t even pay their health insurance.
The whole exchange between S. and Lieferando is convoluted and messy, so we will not reproduce it here. What we want to point out, however, is the strategy we opted to pursue. As noted earlier, our comrade kept track of everything, from video recordings showing that no one was present for the in-person check, to screen recordings and screenshots demonstrating that the digital training had not taken place. From the onset, an important concern was to preserve the relevant metadata, i.e. the information about the digital data which is stored on the device (phone, laptop, camera) itself. This can include the date, time, and place where the recordings were created or the screenshots taken. Without this metadata, the employer or a court of law can refuse the screenshots or recordings as proof or can shed reasonable doubt on their authenticity. In fact, Lieferando themselves tried to reject some of screenshots we provided at one point by arguing that the URL links were not clearly visible.
Our comrade also involved the Worker’s Council in the email exchanges with Lieferando. And while the council was unsurprisingly spineless, it helped shed enough doubt on the narrative Lieferando tried to create from the start. We started compiling parallel lists of contradictory and simply untrue information in the email exchanges between the various HR people, the Betriebsrat, and S.
In May, a second attempt at an online security training failed. Again, nobody from Lieferando showed up.
Lieferando’s HR and PR machine is composed of countless faceless names, answering never ending emails and requests. All it usually does is repeat standard talking points from the internal rule set. You run into the occasional frustrated manager or into someone more cautious who escalates cases to a different branch. They do not properly investigate claims, hiding behind the shaky authority of the classic “I don’t make the rules“ mantra. So we decided to press them on these very rules.
Rather than writing a union letter with an airtight case that would include all the proof our comrade collected, we baited them with an apparently weaker letter, to which we attached a set of screenshots that proved our comrade was in the online meeting at 13:12 and nobody else was there. We made no mention of any other proof.
Lieferando answered with a tone of fake appeasement, offering to remove one of the warnings they had issued, but maintaining that they do not owe our comrade any money for the months when S. was blocked from taking shifts. Their whole argument was built on the claim that the meeting itself had, per their records, in fact taken place between 12:00 and 13:00. And that our screenshots only demonstrated that S. had joined the meeting at 13:12. Therefore, it was no longer possible to admit them into the training at this point, as it had already been completed.
Once Lieferando chose this as their version of the events, there was no going back. We followed-up with another letter and email, pointing out that the hours they mentioned were wrong and that S. was indeed online at the right time. As we still had the screen recordings of the registration for this training, we had the necessary proof to demonstrate they were in the wrong. We also made it clear that this was our last email and we would pursue legal action next.
With their version of the events no longer tenable, Lieferando folded and accepted to pay our comrade retroactively for the three months in which they were blocked from attending shifts and retracted the warnings.
So while the Riders United campaign is dead, the lessons it taught us can still be expanded into newer methods to fight and organise. We tend to see corporations as cold and ruthless, but behind their faceless nature we can identify a chaotic organisational structure whose internal contradictions can be turned into tools for labour struggles.