Redebeitrag auf der Kundgebung „Staat und Kapital begraben“ 13.02.2020
„Heute ist ein etwas seltsamer Tag, wir gedenken einem Gedenken vor 100 Jahren, der Beerdigung, nicht dem Todestag Peter Kropotkins. Einem Gedenken an einen Anarchisten der selbstverständlich kein Anführer sein wollte, dessen Sarg dann aber ein Achtkilometer langer Trauerzug folgte. Einem Fürsten der nicht kommandierte und dem trozdem viele zuhörten.
Wir möchten gerne mit einem Augenzwinkern eine Anekdote aus Kropotkins Leben erzählen, die davon handelt wie die bürgerlichen Autoritäten ihn für den großen revolutionären Anführer nahmen, der er nicht gewesen ist. Nachdem Kropotkin auf beitreiben des russischen Botschafters aus der Schweiz verbannt worden war, ließ er sich für eine kurze Zeit in London nieder. Weil sich der revolutionäre Funke dort nicht so recht entzünden wollte, wurde es ihm aber schnell langweilig und er beschloss, nach Frankreich überzusetzen. Längst hatte er die Verbindung mit der anarchistischen Bewegung verloren. Seine Ankunft in 1882 traf allerdings mit einer Serie von Riots und Dynamit-Explosionen in Zentral-Frankreich zusammen, die die bürgerlichen Autoritäten auf das Erstarken der anarchistischen Bewegung im Süden Frankreichs zurückführten. Und als Kropotkin just in diesem Moment französischen Boden betrat, konnte man der Bewegung das Gesicht eines bekannten Schriftstellers geben. Kropotkin wurde mit 53 anderen Anarchist*innen angeklagt. Weil man aber keiner*m von ihnen etwas nachweisen konnte – sie hatten mit der Bewegung ja auch nichts zu schaffen – versuchte man, sie anhand eines alten Gesetzes zu verurteilen, das die Mitgliedschaft in der ersten Internationale unter Strafe stellte. Der Staatsanwalt musste eingestehen, dass die Internationale gar nicht mehr existierte. Dennoch verurteilte man die Angeklagten aufgrund ihrer Mitgliedschaft darin. Diese wiederum nutzen den Prozess als eine Bühne und erklärten: „Halunken, die wir sind, fordern wir Brot für alle; für alle ebenso Unabhängigkeit und Gerechtigkeit.“ Sie appelierten an das Gericht, nicht den Klassenhass zu perpetuieren und wurden zu 5 Jahren Haft verurteilt.
Kropotkins theoretische Überlegungen sind für heutige Linke sehr fern, manchmal auch ein bissschen peinlich. Sein unbedingter Glaube an die Wissenschaft und ihren Beitrag zur Revolution – er nahm das aufkommende Postsystem und die Einrichtug von Kanalisationen als anzeichen der heraufkommenden Umwälzung – ist für uns heute oft unverständlich. Er argumentierte zu seiner Zeit gegen die Sozialdarwinisten, die glaubten mit der Evolutionstheorie beweisen zu können dass den Armen keine Rechte, den hungernden kein Brot zusteht. Dagegen setzte er ein wohlwollendes Menschenbild und versuchte ebenfalls mit der Evolutionstheorie zu zeigen, dass das Überleben Aller von gegenseitiger Hilfe und der Kooperation abhängt, nicht die Stärksten sondern die Sozialsten überleben. Spätestens seit dem ersten Weltkrieg, dem ersten industriellen Krieg und seit den logistisch kalt durchkalkulierten Verbrechen der Shoah, müssen wir uns eingestehen, dass Fortschritt und Aufklärung keine Einbahnstraße sind, kritisierbar bleiben und auf ihre eigenen emazipatorischen Ansprüche hin geprüft werden müssen. Der Mensch ist zumindest manchmal dem Menschen ein Wolf, ein Anarchismus der nicht auch schwache, nicht immer nur auf Nächstenliebe bedachte Menschen mitdenkt kann und darf nicht überleben. Kropotkins Cent genaue Durchrechnung des 4 Stunden Tages sind heute für uns kaum mehr verwertbar, ebenso wenig wie seine detailverliebten Analysen der Pariser Kommune: das meiste ist schlicht historisch überholt, wie die meisten wissenschaftlichen, nicht philosophischen Erkenntnisse aus dieser Zeit. Kropotkin dachte über die Kollektivierung von Hausarbeit nach, aber die Dekonstruktion der Rolle der Frau im Häuslichen bleibt bei ihm unhinterfragt, spielt für ihn keine besondere Rolle. Daher ist für uns klar: Wir müssen eigene Antworten finden, für unser Hier und Jetzt, es rettet uns kein höheres Wesen und auch kein Kropotkin, es ist an uns einen neuen, queeren, anti-rassistischen Anarchismus zu entwerfen und vorallem: zu leben! Das heisst auch, bestehende Missstände in der eigenen Bewegung nicht zu verschleiern und sich für die gegenseitige Kritik zugänglich zu machen.
Am Tag von Kropotkins Beerdigung, also heute vor genau 100 Jahren, fand sich der größte Demonstrationszug von Anarchist*innen zusammen, den die Welt bisher gesehen hat. Ihre schwarzen Fahnen wehten im eisigen Wind und das Schwarz ihrer Transparente hob sich in scharfem Kontrast von den schneebedeckten Straßen Moskaus ab, das der Winter für Jahrzente in seiner Gewalt halten sollte. Noch heute lässt der Frühling auf sich warten. Der Beerdigungszug erstreckte sich über acht Kilometer, wenn man dem Historiker George Woodcock glauben darf. Und in scharlach roten Buchstaben verkündeten die schwarzen Transparente, dass es dort, wo die Herrschaft besteht, keine Freiheit geben kann. Wir möchten über diesen Tag, an dem die Bolschewiki die Gefängnisse öffneten, gerne als ein letztes Aufbäumen der anarchistischen Bewegung denken, als eine Demonstration der Stärke und eine Erinnerung, dass der Ruf nach Freiheit wieder einmal so laut erschallen wird. Eine Parade der Ungebeugten und Aufrechten. Allerdings ist uns auch jedes Held*innengedenken fern, weil die Heroisierung das reale Leid der Menschen verharmlost, die sich nach einem besseren Leben sehnten. Die Prozession im Gedenken an den alten anarcho-Kommunisten, war ebenso eine Anklage der Tyrannei der Bolschewiki.
Ich lese kurz aus dem Bericht eines Augenzeugen vor: „Um die Leiche des großen alten Mannes, die im Gewerkschaftshaus im Säulensaal aufgebahrt war, kam es trotz Kamenews wohlwollendem Takt zu allerlei Zwischenfällen. Der Schatten der Tscheka war überall, aber eine dichte und hitzige Menge strömte herbei; das Begräbnis wurde zu einer aufschlußreichen Kundgebung. Kamenew hatte versprochen, alle gefangengehaltenen Anarchisten für einen Tag freizulassen [und Anarchistinnen, möchte ich ergänzen]; so bezogen Aaron Baron und Jartschuk die Ehrenwache vor der sterblichen Hülle Kropotkins. Mit seinem eisigen Gesicht, der freien hohen Stirn, der schmalen Nase, dem schneeweißen Bart glich er einem schlafenden Magier, während ringsum schon aufgebrachte Stimmen flüsterten, die Tscheka verletze Kamenews Versprechen, in den Gefängnissen werde ein Hungerstreik beschlossen, der oder jener sei soeben verhaftet worden, die Erschießungen in der Ukraine gingen weiter … Schwierige Verhandlungen wegen einer schwarzen Fahne, einer Rede verbreiteten in dieser Menschenmenge eine Art Raserei. Der lange Zug, von Studenten eingesäumt, die, sich an den Händen fassend, eine Kette bildeten, setzte sich unter Chorgesang, hinter schwarzen Fahnen, deren Inschriften die Tyrannei anklagten, nach dem Friedhof von Nowodjewitschi in Bewegung. […]. Aaron Baron, der in der Ukraine verhaftet worden war und am selben Abend wieder ins Gefängnis wandern sollte – das er nie wieder verlassen würde -, erhob seine abgezehrte, bärtige Silhouette mit der goldenen Brille, um unerbittliche Proteste gegen den neuen Despotismus auszustoßen, gegen die Hinrichtungen in den Kellern, die Entehrung des Sozialismus, die Gewalttätigkeit der Regierung, die die Revolution mit Füßen trete. Furchtlos und leidenschaftlich schien er neue Stürme zu säen.“
Die Ernte dieser Stürme steht noch aus. Aber wir können von dem Leid der Anarchist*innen lernen, sich nicht mit einer halben Revolution zufrieden zu geben und ebenso wenig mit dem Status quo der bürgerlichen Freiheiten, die wir heute nur allzuoft gegen die Bürgerlichen selbst verteidigen müssen. Wir werden nacher noch ausführlicher von dem unsäglichen neuen Versammlungsgesetz hören, das die Landesregierung in NRW plant. Es gibt noch eine anarchistische Bewegung, aber sie ist allzusehr in Abwehrkämpfen verstrickt.
Umso mehr freut es uns, dass wir in diesem Jahr eine Delegation der mexikanischen Zappatistas in Europa begrüßen dürfen. Ein Teil der Delegation, die zu mehr als drei-vierteln aus Frauen* besteht, wird uns auch in Münster besuchen, um das Gespräch mit aktivistischen Gruppen zu suchen. In genau einem halben Jahr, am 13. August werden sie der spanischen Regierung in Madrid sagen, dass die Menschen in Mexiko zwar vor 500 Jahren kolonisiert aber niemals besiegt worden sind. Sie wollen die Hoffnung ihres Widerstandes nach Europa tragen. In einem Schreiben erklären sie: „Folgendes haben wir entschieden: Dass es wieder Zeit ist, dass die Herzen tanzen, und dass ihre Musik und ihre Schritte nicht die des Bedauerns und der Resignation sind.“
Zur gleichen Zeit, vom 13. bis 15. August werden wir in Münster einen anarchistischen Kongress abhalten. Er trägt den schönen Namen „KongressA“ und wird von der FAU, dem Roots of Compassion Kollektiv, den leo’s, Endgelände, der Graswurzelrevolution, dem Paul Wulf Freundeskreis und einigen Einzelpersonen organisiert. Lasst uns dort die anarchistischen Kämpfe in Münster zusammenbringen, von einander lernen, und gemeinsam Strategien für eine herrschaftsfreie Praxis entwickeln.
Im übrigen, sind wir der Meinung, dass Nationalstaaten zerschlagen werden müssen.“